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Ich bin dann mal weg

Ein buchstäblich bewegendes Projekt bringt ältere Menschen wieder zum Radfahren

Ein Gespann bahnt sich seinen Weg durch einen Park irgendwo in Berlin, vorne zwei ältere Damen – auf den ersten Blick mögen sie in den 80ern sein –, hinten ein Mann mittleren Alters, gleichmäßig in die Pedale tretend.

Das recht auf Wind in den haaren

Calle Overweg heißt der Mann, und die beiden älteren Damen sind heute für ein oder zwei Stunden Fahrgäste: Als zwei quietschlebendige und bestens gelaunte Gallionsfiguren sitzen sie vorne in der Rikscha, die sich gemächlich durch den Park bewegt. Sie halten die Nase in den sonnenwarmen Fahrtwind. Sie kichern bei jedem Huckel. Sie winken Fremden zu, und Fremde winken ihnen zurück, sie müssen unwillkürlich lächeln.

Was eigentlich in Berlin spielt, könnte genauso gut auch in der Schweiz, Neuseeland oder Singapur stattfinden. Die Bewegung „Cycling without Age“, Radeln ohne Alter, hat die Welt erobert. Geboren wurde sie 2012 in Dänemark, und Ole Kassow ist der Kopf dahinter. Er möchte ältere Menschen zurück aufs Rad bringen und ihnen einen Teil ihrer Mobilität zurückgeben. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs, denn tatsächlich geht es um viel mehr. Das wird schnell klar, wenn man sich Oles Geschichte anhört.

Wie viele Kopenhagener fährt auch Ole mit dem Rad zur Arbeit und passiert dabei täglich einen alten Mann auf einer sonnenbeschienenen Bank, den Gehwagen neben sich geparkt. Ole weiß, dass das Fahrrad in den 30er Jahren als günstiges, unabhängiges und zuverlässiges Transportmittel aus dem Alltag vieler Menschen nicht wegzudenken war. Ole kommt ins Grübeln: Wahrscheinlich ist auch dieser Mann in jungen Jahre viel Rad gefahren. Und wahrscheinlich vermisst er es jetzt. Deshalb steht Ole eines Tages unangemeldet im Seniorenheim, draußen wartet eine Rikscha. Er bietet an, Heimbewohner damit an einen Ort ihrer Wahl zu fahren. Gertrud ist sein erster Fahrgast und muss nicht lange überlegen. Sie möchte gerne ins Hafenviertel, mit dem sie ganz besondere Erinnerungen verbindet. Sie sehnt sich nach dem Geschrei der Möwen, dem Geruch von Meer und der lebendigen Wuseligkeit des Ortes. Am Tag nach dem Ausflug ruft die Heimleitung Ole an: „Was haben Sie mit Getrud angestellt?“ Die alte Frau ist wie verwandelt, und außerdem äußern plötzlich sämtliche Bewohner des Heims den dringenden Wunsch, mit dem Rad durch die Stadt gefahren zu werden.

Radeln ohne Alter

Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Ole erkennt die Kraft, die seiner simplen Idee innewohnt, und setzt sich mit der Kopenhagener Stadtverwaltung in Verbindung. Fünf Rikschas werden für den Anfang gekauft. Die Vermittlung der freiwilligen Fahrer, „Piloten“ genannt, erfolgt über ein simples Buchungssystem. 2015, also drei Jahre nach dem Start von „Cycling Without Age“, kurven über 4000 Rikschas durch über 63 Großstädte in Dänemark, und in 18 Ländern weltweit haben sich verwandte Initiativen gegründet, von „Á Vèlo Sans Âge“ oder „In bici senza età“ bis hin zu „Radeln ohne Alter“.

Das Fahrrad als Fenster zur Welt

„Ohne Alter“ bezieht sich nicht allein auf das Fahrradfahren, sondern meint auch Teilhaben und Teil-Sein. Denn genau das ermöglicht das Projekt. „Ohne Alter“ ist eine Metapher für „ohne Grenzen“, oder ‚carpe diem‘“, erklärt Ole. Er gibt zu, dass „ohne Alter“ in vielen – wenn nicht sogar allen – Sprachen merkwürdig klingt. Doch es ist gut, wenn man darüber stolpert, denn das spiegelt nur, wie besonders das Projekt ist. Rauskommen, unter Menschen kommen, mitbekommen, was sich so tut in der eigenen Stadt oder Nachbarschaft. Auf den zweiten Blick geht es um viel mehr als wiedergewonnene Mobilität und „das Recht auf Wind in den Haaren“, wie das Motto der Bewegung lautet. Das Fahrrad fungiert hier als Katalysator und Fenster zur Welt, denn das Leben endet eben nicht mit 75. Das erfährt auch Calle Overweg, Gründer von „Radeln ohne Alter“ in Berlin, bei seiner ersten Ausfahrt mit den beiden älteren Damen, und ist überrascht von dem Zauber, den eine simple Fahrradtour entfalten kann: „Die beiden machten unsere kleine Fahrt zu einer Feier ihres Dabeiseins im öffentlichen Leben. Und sie erzeugten um uns herum eine Blase aus guter Laune. Was sie mit mir teilten, war ihr Glück. Ich bekam unfassbar viel davon ab. Das Wichtigste im Leben kann sehr einfach sein.“

  • Text: Maren Lupberger
  • Foto: Cycling Without Age